Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt

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Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt ist ein provokanter Film von Regisseur Rosa von Praunheim.

In ihm wird das damalige Leben vieler Schwuler Anfang der 70er in der Subkultur und die daraus zu ziehenden Konsequenzen behandelt. Er richtet sich nicht an die "Unterdrücker", sondern an die Homosexuellen selbst. Die These des Films: Die schlechte Situation, in der sie lebten, sei hausgemacht. Tenor des Films ist, dass Schwule ihre unmäßige Angst überwinden und aus ihren Verstecken kommen sollen, um solidarisch und kämpferisch miteinander für eine bessere, gleichberechtigtere Zukunft anzutreten.

Er wurde mitauslöser für die Schwulenbewegung im deutschsprachigen Raum und nach so mancher Vorstellung kam es zu heftigen Diskussionen und es wurden in weiterer Folge auch einige Schwulengruppen gegründet. Die Fernsehausstrahlung wurde zum Skandal.

Zitate

  • Schwule wollen nicht schwul sein, sondern sie wollen so spießig sein und kitschig sein wie der Durchschnittsbürger. Sie sehnen sich nach einem trauten Heim, in dem sie mit einem ehrlichen und treuen Freund unauffällig ein eheähnliches Verhältnis eingehen können. Der ideale Partner muß sauber, ehrlich und natürlich sein, ein unverbrauchter und frischer Junge, so lieb und verspielt wie ein Schäferhund.
    Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ als dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden.
    Schwule schämen sich ihrer Veranlagung, denn man hat ihnen in jahrhundertelanger christlicher Erziehung eingeprägt, was für Säue sie sind. Deshalb flüchten sie weit weg von dieser grausamen Realität in die romantische Welt des Kitsches und der Ideale. Ihre Träume sind Ilustriertenträume, Träume von einem Menschen, an dessen Seite sie aus den Widrigkeiten des Alltags entlassen werden in eine Welt, die nur aus Liebe und Romantik besteht. Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben haben.
  • Die meisten Homosexuellen sind kaufmännische Angestellte oder arbeiten in Dienstleistungsberufen, denn sie haben Angst vor dreckigen Fingernägeln und der Aggressivität der Arbeiter. Schwule haben es doppelt schwer am Arbeitsplatz, denn zu der üblichen beschissenen Arbeit kommt die nervenzerreibende Selbstverleugnung. Sie werden Freizeit-Schwule, die aus der verlogenen Situation am Arbeitsplatz nur allzu gerne in die Welt der Schwulen flüchten, wo sie zwar nicht als Menschen, aber als Schwule anerkannt werden. Sie treffen sich bei Kaffee und Kuchen, hören Chansons von Zarah Leander und der Dietrich und fahren in gemeinsame Urlaubsorte wie Sylt und Torremolinos.
  • [verstecktes Leben war damals beim Totalverbot verständlich]
    Jetzt aber ist die Zeit wo wir uns selbst helfen müssen.
  • Das wichtigste für alle Schwulen ist, dass wir uns zu unserem Schwulsein bekennen.
  • Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Und wir müssen selbst darum kämpfen. Wir wollen nicht nur toleriert, wir wollen akzeptiert werden.
  • Es geht nicht nur um eine Anerkennung von Seiten der Bevölkerung, sondern es geht um unser Verhalten unter uns. Wir wollen keine anonymen Vereine! Wir wollen eine gemeinsame Aktion, damit wir uns kennenlernen und uns gemeinsam im Kampf für unsere Probleme näherkommen und uns lieben lernen.
  • Die Mehrzahl der Homosexuellen gleicht dem Typ des unauffälligen Sohnes aus gutem Hause, der den größten Wert darauf legt, männlich zu erscheinen. Sein größter Feind ist die auffällige Tunte. Tunten sind nicht so verlogen, wie der spießige Schwule. Tunten übertreiben ihre schwulen Eigenschaften und machen sich über sie lustig. Sie stellen damit die Normen unserer Gesellschaft in Frage und zeigen, was es bedeutet, schwul zu sein.
  • Homosexuelle haben miteinander nichts gemeinsam als den starken Wunsch, mit einem Mann zu schlafen. Der immer stärker werdende Wunsch nach einem nackten männlichen Körper treibt sie aus ihren Familien heraus zu den Orten, wo sie Schwule treffen. In der Gemeinschaft der Schwulen können sie für kurze Zeit vergessen, daß sie Aussätzige und Verstoßene sind.
  • Wir müssen uns organisieren. Wir brauchen bessere Kneipen, wir brauchen gute Ärzte, und wir brauchen Schutz am Arbeitsplatz.
    Werdet stolz auf eure Homosexualität!
    Raus aus den Toiletten (Anmerkung: Damals gab es den Begriff "Schrank" noch nicht)! Rein in die Straßen!
    Freiheit für die Schwulen!

Historischer Hintergrund

Der Film wurde bereits im Jahr 1971 gedreht. Praunheim ließ sich für diesen Film von dem Soziologen und späteren Sexualwissenschaftler Martin Dannecker beraten. Somit basiert der Film auf dessen Studie aus dem Jahre 1970! Bis 31.08.1969 wurden Schwule gnadenlos verfolgt. Ein Coming-Out der Massen innerhalb dieser wenigen Monate zwischen dem Ende der gnadenlosen Verfolgung und dem Beginn der Studie war überhaupt nicht zu erwarten. Selbst wenn hunderte Schwule innerhalb kürzester Zeit ein Coming-Out hingelegt haben würden, hätten sie in der Kürze der Zeit niemals die Gelegenheit gehabt, sich zu organisieren, Vereine zu gründen und eine schwule Presse aufzubauen. Es bestand somit zum Zeitpunkt des Beginnes der Dannecker-Studie unter den Schwulen in Westdeutschland ein völliges Informationsdefizit. Die Aussage "Wir müssen uns organisieren. Wir brauchen bessere Kneipen,..." ist angesichts der Kürze der Zeit äußerst gewagt. Es grenzt praktisch an ein Wunder, daß es bereits zum Drehzeitpunkt überhaupt Konzessionen für Schwulenkneipen gab. Die ersten schwulen Vereine durften sich nicht einmal als "Lederfetisch-Club" gründen, sondern mußten als "Motorsportverein" gegründet werden. Angesichts dieses historischen Hintergrundes ist es erstaunlich, daß ein Film, der auf der gesellschaftlichen Situation wenige Monate nach der "Stunde Null" basiert, heute noch Aktualität besitzt.

Siehe auch