Hans Giese

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Hansernst Friedrich Giese (* 26. Juni 1920 in Frankfurt am Main; am 22. Juli 1970 bei Saint-Paul-de-Vence, Frankreich, tot aufgefunden) war ein deutscher Mediziner und Sexualforscher.


Leben und Werk

Hans Giese gehörte zu den gefragtesten Sexualwissenschaftlern seiner Zeit. Der Bundesgerichtshof gab zum Beispiel einen Fall zur erneuten Verhandlung an die Vorinstanz zurück mit der Begründung, Giese sei nicht als Gutachter gehört worden. Er selbst soll das Ziel verfolgt haben, ein bedeutender Mensch zu werden[1]. Giese war homosexuell, hielt seine Homosexualität aber so gut wie möglich geheim. Er hatte in seinem Geburtsort Frankfurt am Main die Erfahrung machen müssen, dass die dortige Universität ihm den Lehrbefähigungsnachweis wegen seiner dort bekannten Homosexualität vorenthielt. Teilweise wird die Auffassung vertreten, die Geheimhaltung seiner sexuellen Orientierung habe zu einem größeren Plan, einer Tarnung gehört, die es ihm ermöglichte, unerkannt als Kämpfer für die Rechte homosexueller Männer aufzutreten.

Giese war lange Zeit von dem Psychiater Hans Bürger-Prinz [2] abhängig. Hans Bürger-Prinz förderte die wissenschaftliche Karriere Gieses bereits in der Nazi-Zeit und verschaffte ihm später eine Professur in Hamburg. Zwar folgte Giese Hans Bürger-Prinz' Lehrmeinung nicht in allen Punkten, allerdings übernahm er von ihm die Auffassung, Homosexualität werde durch Verführung erworben. Der Historiker Bernd-Ulrich Hergemöller ist der Auffassung, dass diese beiden die deutsche Sexualforschung der Nachkriegszeit weitgehend im Sinne der Denkmuster der NS-Zeit beeinflussten.

Giese beschränkte sich nicht auf Vorlesungen, Gutachten und schriftliche Veröffentlichungen. Er entdeckte das Medium Film für sich. 1957 war er wissenschaftlicher Berater und wohl auch Initiator des Films „Das dritte Geschlecht“. Seine Idee, damit eine Diskussion über den § 175 anzustoßen, erreichte er mit fatalen Folgen für schwule Männer. Für die Realisierung des Films arbeitete er mit einem bekannten Nazi-Regisseur, Veit Harlan, zusammen. Harlan hatte mit dem Film „Jud süß“ traurige Berühmtheit erlangt. Harlan stellte eine Bedingung: „Der Film darf diese Homosexuellen, die wir tragisch betrachten müssen, wenn wir hochherzige Menschen sein wollen, nicht aus spießbürgerlichen Motiven verurteilen und verfolgen. Wir dürfen sie nur in dem Sinne verfolgen, als sie junge Menschen, deren Natur im Grunde in Ordnung ist, verführen“[3]. Giese war einverstanden und beriet den Verfasser des Drehbuchs in diesem Sinne. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft gab den Film nicht frei. Daraufhin wurde der Film neu geschnitten und nachträglich Texte verändert. Das Ergebnis, unter dem Titel „Anders als Du und ich (§ 175)“ in die Kinos gekommen, kann nur als schwulenfeindliches Machwerk bezeichnet werden. Gezeigt werden nunmehr die Verführung eines Siebzehnjährigen durch einen älteren Mann, die erfolgreichen Umpolungsversuche seiner besorgten Mutter und die glückliche heterosexuelle Zukunft des geheilten Siebzehnjährigen. Allerdings: Schon die – nicht gezeigte – Originalfassung offenbart, was Giese umgetrieben haben mag: Er wollte zeigen, welche Gefahren von älteren/alten schwulen Männer für junge Menschen ausgehen. Seine Idee, eine stabile, homosexuelle Beziehung zwischen Männern großen Altersunterschiedes, wie er sie selbst bis zu seinem Tod lebte, tritt in der filmischen Realisierung in den Hintergrund. Es bedarf schon einer gehörigen Portion Fantasie, die in den 1950er Jahren in Deutschland gewiss nicht vorhanden war, um in der Originalfassung des Films positive Aspekte schwulen Lebens zu erblicken.

Hans Giese und die Reform des § 175

Der § 175 StGB war die zentrale Strafvorschrift für die Verfolgung und Bestrafung homosexueller Männer. Zusammen mit den §§ 175a und 182 bildete er im Nachkriegs(west)deutschland die Grundlage für die Verurteilung von mehr als 100.000 Männern. Während die von den Nazis verurteilen Männer durch den Deutschen Bundestag rehabilitiert wurden, verweigert der Bundestag (mit wechselnden Mehrheiten) hartnäckig die Rehabilitierung (und gegebenenfalls eine Entschädigungszahlung) für die nach 1945 verurteilten Männer, obgleich der Wortlaut des Strafnorm bis 1969 der Nazi-Fassung entsprach.

Ein von der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung unter Mitwirkung von Giese dem Bundestag und dem Bundesrat unterbreiteter Vorschlag vom 1. November 1950 sah keineswegs die Abschaffung, sondern lediglich eine Neuformulierung der § 175, 175 a StGB vor. Es sollte weiterhin ein Sonderstrafrecht für homosexuelle Männer geben. Giese vertrat – und sah sich damit in der Tradition des Magnus Hirschfeld [4] – die Auffassung, schwule Männer seien krank und teilte sie in zwei Gruppen ein: Die eine Gruppen waren die lasterhaften, unanständigen Männer, die sich durch die Betten der Gesellschaft fickten, verführten und latent pädophil waren. Die andere Gruppe waren die in trauter Zweisamkeit im Verborgenen lebenden homosexuellen Männer. Die erste Gruppe war vehement zu bekämpfen, auch mit den Mitteln des Strafrechts, die andere Gruppe war zu dulden und in medizinische Betreuung zu geben. Damit stand Giese außerhalb der Homosexuellenbewegung der damaligen Zeit.

1956/1957 berief das Bundesverfassungsverfassungsgericht Giese als Gutachter in einem Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit der §§ 175, 175a StGB in der Nazi-Fassung. Im Urteil vom 10. Mai 1957 [1] werden Gieses Ausführungen wiedergegeben:

[…] Homosexuelles Verhalten könne zur Perversion werden; primär sei es aber Verfehlung. Homosexuelle Beziehungen blieben biologisch steril; in dieser Hinsicht bestehe zwischen dem homosexuellen Mann und der homosexuellen Frau kein Unterschied. Gleichartig sei die homosexuelle Betätigung auch insofern, als sie auf Grund taktiler Reize zum Orgasmus führe. Auch die Erscheinungsformen seien prinzipiell die gleichen. Solange das homosexuelle Verhalten sich im Rahmen von Einzelbeziehungen oder Dauerbeziehungen mit dem gleichen Partner innerhalb der eigenen vier Wände halte, könne er eine soziale Gefährdung nicht sehen; Beziehungen dieser Art seien vielmehr geeignet, soziale Gefährdung zu verhüten. Erst mit dem Umschlagen zur Perversion werde das homosexuelle Verhalten des Mannes und der Frau sozial gefährdend, weil destruktiv. Symptomatisch hierfür seien Promiskuität, Prostituiertenverkehr, Verführung Minderjähriger usw. In all diesen Fällen werde die Öffentlichkeit berührt. Die soziale Gefährdung liege aber nicht nur im Tatbestand des “öffentlichen Ärgernisses”, sondern in der Destruierung der Sittlichkeit. […] Eine soziale Gefährdung besonderer Art sei die Verführung. Sie könne unerwünschte Reifungskrisen auslösen und müsse kriminalpolitisch mit allen Mitteln verhindert werden. Dies sei um so wichtiger, als der homosexuelle Trieb sehr häufig auf jüngere, wenn auch nicht notwendig auf jugendliche Personen eingestellt sei. Beim homosexuellen Mann müsse die Sonderform des Päderasten unterschieden werden, der die Altersspanne von 12 bis 17 Jahren “bis zum Bartwuchs” begehre. Der typisch homosexuelle Mann suche den 20- bis 27-jährigen, zumeist den jünglinghaften, gleichwohl doch reifen Mann. Da der Päderast auf den normalen Knaben anspreche, zeige sich ein kriminalpolitisch zu beachtender Unterschied innerhalb der Homosexuellen. Eine der Päderastie analoge Tendenz sei ihm bei homosexuellen Frauen nicht aufgefallen. Die Verführung eines unreifen Menschen des gleichen oder anderen Geschlechts sei nahezu immer ein Symptom für perverses Verhalten […] Der männlichen Sexualität sei eine größere Appetenz eigentümlich. Hemmungslosigkeit sei aber ein Ausdruck der Perversion des Geschlechtstriebes und führe gewöhnlich zu einer über das Maß hinaus gesteigerten Betätigung. Die Tatsache, daß die männliche Sexualität leichter in das Gleis der Perversion gerate, erkläre die auffallende Häufigkeit der Hemmungslosigkeit bei homosexuellen Männern. Grundsätzlich müsse aber die Möglichkeit der Perversion des Geschlechtsverhaltens in der Struktur der Sexualität und nicht in der Struktur besonderer Formen sexueller Verfehlungen gesucht werden. Daß die männliche Homosexualität stärker als die weibliche in der Öffentlichkeit in Erscheinung trete, sei außer Zweifel. […]

Das Verfassungsgericht hat sein Urteil, nämlich die §§ 175, 175a StGB in der Nazi-Fassung weitergelten zu lassen, ganz wesentlich auf Gieses Ausführungen gestützt.

Die 1953 eingesetzte Große Strafrechtskommission (zur Überarbeitung des Strafgesetzbuches) hörte Giese ebenfalls als Gutachter. Giese beschrieb homosexuelle Menschen in seinem Gutachten als verantwortungsscheu, gehemmt, depressiv, weich, ängstlich und suizidal[5]. Zwar vertrat Giese durchaus die Ansicht, dass das seinerzeit geltende Strafrecht den Ergebnissen der modernen Forschung keineswegs standhalte, jedoch lieferte er durch die Art seiner Argumentation jeden Grund, nicht an der Strafbarkeit homosexueller Handlungen zu rühren.

Kritik

Giese wohlgesonnenere Auffassungen bezeichnen ihn als deutschen Kinsey, der zusammen mit Oswald Kolle und Beate Uhse die deutschen Betten durchlüftete. Nach Sybille Steinbacher[6] ging es Giese, anders als Kinsey, indes nicht um das freie Ausleben homosexueller Neigungen, Vielmehr schrieb er homosexuellen Männer soziale Inkompetenz zu und hielt rechtliche Sanktionen ebenso wie gesellschaftliche Ausgrenzung für gerechtfertigt. Giese wollte Homosexualität eingehegt wissen in Disziplin und Ordnung, daher hielt er an der etablierten Interpretation vom normalen und anomalen Sexualverhalten fest. Normal war für ihn einzig die heterosexuelle Orientierung (Steinbacher).

Auch wenn zuzubilligen ist, dass Giese es niemals zu Ansehen und Ruf gebracht hätte und er nicht von obersten Bundesgerichten und vom Bundesverfassungsgericht als Gutachter berufen worden wäre, wenn seine Homosexualität weithin bekannt gewesen wäre, so ist die Theorie von der strategischen Geheimhaltung seiner Homosexualität fragwürdig, ebenso wie fragwürdig ist, ob Giese überhaupt für schwule Männer gekämpft hat. Von seinen Schülern[7] und anderen Zeitgenossen wird Giese eine gehörige Portion Opportunismus bescheinigt.

Martin Dannecker [8] bemerkt zum Verhalten Gieses:

„Giese war in der Zwischenzeit zu einem von höchsten gesellschaftlichen Instanzen anerkannten Sexualwissenschaftler geworden, wovon nicht zuletzt der Gutachtenauftrag des Bundesverfassungsgerichts zeugt. Offenbar befürchtete er, im Falle des Bekanntwerdens seiner Homosexualität den sogenannten “interessierten Kreisen” zugerechnet zu werden, was seine wissenschaftlichen Argumente nicht nur in seinen Augen entwertet hätte. Je einflußreicher er wurde, desto mehr fühlte er sich gedrängt, die lebensgeschichtlich vermittelte Wahl seines Forschungsgegenstandes zu verschleiern und zu betonen, seine Homosexualitätsforschung sei reine und unabhängige Wissenschaft.“

Giese und seine unanhaltbaren Ansichten werden heute von Christl Vonholdt mit ihrem Institut Deutsches Institut für Jugend und Gesellschaft zur Begründung der These vom heilungsbedürftigen, schwulen Mann beigezogen[9].

Weblinks

Fußnoten

  1. So Erhard Köllner in: Homosexualität als anthropologische Herausforderung, 2001.
  2. Zu Bürger-Prinz siehe Peter von Rönn, Das Homosexualitätskonzept des Psychiaters Hans Bürger-Prinz im Rahmen der NS-Verfolgungspolitik, in: Jellonnek, Burkhard/Lautmann, Rüdiger (Hrsg), Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt, 2002, sowie weitere Veröffentlichungen von Rönns in den Heften 2 und 3 der Zeitschrift für Sexualforschung.
  3. Stefan Drössler, Der Fall Anders als du und ich, im Booklet der DVD der Edition Filmmuseum.
  4. Giese wurde von Hirschfeld in dessen Testament zum Wahrer seines wissenschaftlichen Vermächtnisses bestimmt, trat dieses Erbe aber nicht an.
  5. Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit ärztlichem Einschlag, Bundesministerium der Justiz, 1958.
  6. Wie der Sex nach Deutschland kam, 2011.
  7. Volkmar Sigusch beschreibt Giese als Mitläufer, der auch nach 1945 seine Positionen so wählte, dass er mit keiner vergangenen oder gegenwärtigen Richtung und ihren Vertretern in Streit geriet (in: Lautmann, Rüdiger (Hrsg), Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, 1993) und befindet an anderer Stelle, Giese habe die Homosexualität heterosexualisieren wollen, in: Hans Giese und seine Theorie der Homosexualität, 1997.
  8. In: Was heißt hier schwul?, Detlef Grumbach (Hrsg), 1997.
  9. Vergleiche nur Bulletin DIJG, 2010, Nr. 19, “Kinsey, Money und mehr. Ein Beitrag zur Debatte über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen.” S. 34-41.